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Geschwisterbande- eine ganz besondere Beziehung!

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08. Jun 2021

Der Bereich Hilfen für Kinder befragt Geschwister über den Alltag mit einem Bruder oder einer Schwester mit Behinderung

Über die Beziehung von Geschwistern gibt es unzählige Klischees und Mythen. Dass sie im Leben des anderen aber eine beispiellose Rolle spielen, dürfte jedoch unbestritten sein. Auch über das Zusammenleben mit einem Geschwisterkind mit Behinderung gibt es zahllose Zuschreibungen. Dass jedoch jede Familie und Geschwisterbeziehung einmalig ist und Klischees eben nur Klischees sind, das konnten wir in höchst spannenden Gesprächen mit insgesamt zehn Geschwistern erfahren, deren Schwester oder Bruder eine Behinderung hat.

Ob verwöhnte Nesthäkchen, Erstgeborene, von denen zu viel erwartet wird oder Sandwichkinder, die ewig zu kurz kommen … Eltern haben es immer schwierig es all ihren Kindern gleichermaßen recht zu machen. Noch schwieriger scheint es zu werden, wenn ein Kind mit Behinderung in der Familie aufwächst - so ist zumindest häufig der äußere Eindruck. Oftmals heißt es, dass das Zusammenleben für diese Geschwisterkinder zahllose Einschränkungen mit sich bringe, sie nicht ausreichend beachtet werden oder ihnen quasi eine dauerhafte Rücksichtnahme abverlangt werde. Laut der Stiftung Familien Bande leben in Deutschland über zwei Millionen Kinder und Jugendliche zusammen mit einem Bruder oder einer Schwester mit Behinderung, die erschreckenderweise häufig als sogenannte Schattenkinder bezeichnet werden. Natürlich merken die Kinder früh, dass bei ihnen zu Hause etwas anders ist, doch leiden sei tatsächlich ausschließlich darunter? Im Rahmen der Interviews haben wir mit starken Persönlichkeiten gesprochen, die uns zur Thematik ausführlich Rede und Antwort standen. Insgesamt wurden elf Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Altersgruppen befragt.
                                                         Ich mag alles an ihr
Mit dreieinhalb Jahren war Larissa unsere jüngste Gesprächspartnerin. Ihre ältere Schwester Leandra besucht den Förderkindergarten in Weyerbusch. Obwohl sie einen Rollstuhl benötigt, erzählt uns Larissa, dass ihre Schwester gut krabbeln könne. Außerdem erfahren wir von ihr, dass die Familie gerne zusammen in den Urlaub fährt, zum Campen beispielsweise. Ebenso werden gerne Radtouren unternommen. Auch die beiden Schwestern verbringen sehr viel Zeit miteinander und haben einige gemeinsame Interessen. Zusammen kneten oder mit Spielzeug kochen bereitet den beiden viel Freude. Kaum verwunderlich, dass Larissa nicht lange überlegen muss als wir sie fragen, was sie an ihrer Schwester besonders gerne mag. „Ich mag alles an ihr“, heißt es abschließend.

                            Manchmal helfe ich als kleiner Bruder meinem großen Bruder
Nils ist 13 Jahre alt und lebt gemeinsam mit seinen Eltern, seinem autistischen Bruder Tom (17) und drei Katzen. Auf die Frage, was sein Bruder ganz besonders gut kann, muss er gar nicht lange überlegen. Tom sei sehr hilfsbereit und entschuldigt sich immer sofort, wenn er etwas falsch gemacht hat. Außerdem könne er sich zeitliche Dinge sehr gut merken. Tom ist sportlich und läuft sehr gerne. Und was mag er ganz besonders? Nils muss kurz überlegen. Doch dann platzt es aus ihm heraus: „Ich mag es, wenn wir zusammen Blödsinn machen“, sagt er und muss verschmitzt grinsen. Tja, das ist eben einer der charmanten Vorteile unter Geschwisterkindern – man muss sich den ganzen Unsinn nicht alleine ausdenken. Aber auch Kartenspiele und „Minecraft“ spielen die Brüder gerne gemeinsam. Ob es auch Dinge gibt, bei denen Tom seine Hilfe braucht, fragen wir ihn. Obwohl Tom schon 17 Jahre alt ist, sagt Nils „Manchmal helfe ich als kleiner Bruder meinem großen Bruder“. Ihm falle das Lernen schwer, weswegen er ihn hierbei unterstützen müsse. Auch die dreizehnjährige Shirley weiß, wie es ist mit einem autistischen Bruder zusammenzuleben. Aber ihr Bruder Kenny ist jünger als sie und besucht die Integrative Kindertagesstätte in Kleine Hände in Wissen/Schönstein. Shirley kennt ihren Bruder ganz genau. Sie weiß, dass es ihm oft schwerfällt zu verstehen, ob etwas im Ernst oder nur im Spaß gesagt wurde. Trotzdem sei er immer sehr lustig, was sie ganz besonders mag. Anders als bei Tom, bereitet Kenny das Lernen aber keine Probleme. Ganz im Gegenteil. Obwohl er noch im Kindergarten ist, kann er bereits erstaunlich gut rechnen und lesen. Davon ist Shirley beeindruckt. Aber Kenny hat Probleme damit ruhig zu sein, wenn es notwendig ist. Er versteht das nicht und spielt meistens weiter. Auch Familienausflüge sind meistens recht schwierig, weil er dann oft verunsichert ist. Tom bereitet das keine Probleme. Nils sagt, dass die Familie zusammen sehr gerne wandere – neulich sogar eine 16 lange Kilometer Strecke.

                                 Sie muss checken, dass nicht alles nach ihrer Nase geht
Auch die Familie von Sophia (8) und David (11) ist gern gemeinsam unterwegs –zum Spazieren oder auf Spielplätzen. Ihre jüngere Schwester Laura besucht die Integrative Kindertagesstätte Hand in Hand in Alsdorf. Überhaupt unternehmen die Geschwister vieles zusammen. Sophia und Laura spielen mit Playmobil, kuscheln, tanzen und hören Musik. David erzählt ihr gerne abends Geschichten und auch wenn sein bester Freund zu Besuch kommt, spielen sie gemeinsam mit Laura. David und Sophia mögen ihre Schwester sehr gern, weil sie hilfsbereit und freundlich ist. Aber es gibt auch manche Dinge, womit Laura den beiden das Leben schon mal schwermacht – etwa, wenn sie laut schreit, Wutausbrüche bekommt oder Spielsachen zerstört. Aber natürlich wissen sie, dass es für Lauras Verhalten häufig auch Gründe gibt. Beispielsweise, wenn sie schnell eifersüchtig wird. Dass die Behinderung eine Absolution für alle möglichen Unarten ist, damit wollen sich die Geschwister selbstverständlich nicht abfinden. David hat diesbezüglich klare Vorstellungen. Bei der Frage danach, wobei Laura Hilfe benötige, muss er nicht lange überlegen und antwortet sehr bestimmt „Sie muss checken, dass nicht alles nach ihrer Nase geht“. Seine deutlichen Worte sind einleuchtend und kommen nicht von ungefähr – schließlich stört Laura gerne mal Videokonferenzen während des Homeschoolings und fragt, ob David mit ihr spielen möchte. Außerdem muss er auch sein Zimmer abschließen, da sie sich ansonsten dort hineinschleicht und Sachen wegnimmt oder kaputt macht.

        Wir machen fast alles zusammen und ich hab immer einen zum Spielen zuhause
Auch Elisa (6) kann ein Lied davon singen, wie es ist, von der Schwester Sachen geklaut zu bekommen. Ihre ältere Schwester Helena besitzt auch ein gewisses Talent im Aneignen fremden Eigentums. Ob es andersrum auch so ist, darüber hat Elisa selbstverständlich kein Wort verloren. Wenn man Elisas sonstigen Aussagen zur Schwesternbeziehung zuhört, wird aber schnell deutlich, dass es sich bei den gelegentlichen Diebstählen um übliche Reibereien handeln muss. Die beiden sind tatsächlich unzertrennlich. „Macht ihr auch etwas zusammen?“, wollen wir wissen. Wie aus der Pistole geschossen antwortet die Kleine „Wir machen fast alles zusammen, wenn Helena nicht in der Schule ist“. Am liebsten geht die Familie spazieren, gönnt sich ein Eis oder geht gern ins Schwimmbad – zumindest normalerweise. Elisa wünscht sich, dass Corona bald weg ist, damit Helena und sie wieder planschen können. Aber ein paar Runden Elfer-Raus oder Memory zusammen mit der Oma sind auch gute Alternativen. In ihrer Kindertagesstätte wissen alle, dass Elisa eine Schwester mit Behinderung hat. „Alle kennen uns“, gibt sie zu Papier. Klar – schließlich war Helena bis zu Ihrer Einschulung im vergangenen Sommer selbst in einer der Integrativen Gruppen. Helena sitzt im Rollstuhl und ihre jüngere Schwester, weiß schon ganz genau, wobei sie deshalb Hilfe benötigt. „Sie kann nicht alleine Pipi machen“, sagt sie, könne nicht alleine laufen, stehen, springen oder klettern. Sie kann sich morgens auch nicht alleine anziehen und in den Bus einsteigen. „Der Rolli kommt dann in den Kofferraum“, sagt sie aufmerksam. Mit diesem Hilfsmittel könne ihre Schwester super gut umgehen und komme im Alltag ansonsten sehr gut zurecht. Elisa ist froh, dass sie immer jemanden zum Spielen zu Hause hat. Sie sagt, dass Helena immer Rücksicht auf sie nehme und ihr oft gibt was sie will. Klingt das etwa zu harmonisch – verdächtig harmonisch? Das scheint Elisa bewusst zu werden, als sie schelmig noch schnell eine Selbstverständlichkeit hinterherschieb: „Manchmal schreien wir uns auch an“.

                            Wenn er das Klo reinigen will, ärgert das eher die Mama
Auch Marleen (12) , Mark-Louis (9) und Ayleen (6) verstehen sich mit Bruder Neo in der Regel gut, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Die älteren Geschwister wissen ebenfalls, dass Neo im Alltag ein bisschen mehr Hilfe braucht. Sie unterstützen ihn immer gerne dabei. Außerdem kuscheln sie mit ihm, kämpfen, spielen Verstecken oder gehen spazieren. Dass er öfters schon mal Quatsch macht, mögen die Geschwister eigentlich ganz gern. „Wenn er das Klo reinigen will, ärgert das eher die Mama“, heißt es. Alle müssen lachen. Weniger amüsant ist es, wenn er sie an den Haaren zieht oder ihre Sachen kaputt macht. Aber wenn er mit seinem Schnuller im Mund so süß aussieht und auf Mamas Schoß beim Anschauen von Baggerfotos hopst und vor Aufregung zappelt, ist das schnell vergessen. Bei der Frage danach, was sie sich wünschen, sind sich die Geschwister einig. „Dass Neo sprechen lernt“ lautet ihr Urteil. Marleen wünscht sich außerdem, dass sie mal ein Praktikum in Neos Kita (Kleine Hände in Wissen/Schönstein) machen kann.

                                        Er kann eigentlich ziemlich viele Sachen gut
Finn, der kleine Bruder von Max (9) besucht den Förderkindergarten in Weyerbusch und benötigt beim Essen, Trinken, Reden und auch beim Spielen Hilfe. Aber es gebe auch viele Sachen, die er gut kann, weiß Max zu berichten. „Er kann gut auf dem Trampolin hüpfen und kuscheln. Manchmal machen wir auch Quatsch […] Er kann eigentlich ziemlich viele Sachen gut“. Obwohl die beiden Brüder vieles zusammen unternehmen, gibt es natürlich auch Dinge, die Max ziemlich stören. So schreit Finn häufig immer dann, wenn er versucht seine Hausaufgaben zu machen. Die Behinderung seines Bruders macht ihm manchmal sehr zu schaffen. „Mich ärgert es, dass wir manchmal nicht spielen und reden können“, sagt Max. Daher gibt er auf die Frage nach einem Wunsch an: Dass sein Bruder wieder ganz gesundwird.

          Ihr immer durch den Alltag zu helfen ist anstrengend und auch manchmal nervig
Mit 16 Jahren ist Julien der älteste Interviewpartner. Seine Schwester Jennesme besucht die Integrative Kita in Alsdorf. Er lebt zusammen mit seiner Schwester und den Eltern. „Jennesme ist häufig schlapp und ermüdet schnell. Ihr fehlen Kraft und Ausdauer und sie benötigt Hilfe beim Bestreiten des Alltags“, sagt er sehr reif. Auch weiß er ganz genau, was seine Schwester gut kann. „Vom Kopf her ist sie intelligent und kann gut zuhören. Sie versucht immer zu helfen, ist hilfsbereit, hat immer viel Verständnis und einen sehr starken Willen“, klärt er uns auf. Er mag es ganz besonders, dass man sich mit ihr gut unterhalten kann. Ob es denn auch Dinge gebe, die ihn stören, wollen wir wissen. „Ihr immer durch den Alltag zu helfen ist anstrengend und auch manchmal nervig. Es ist anstrengend ihre Aufgaben zu erledigen“, informiert er uns. Als wir ihn fragen, was er sich wünsche wirkt er etwas bedrückt. „Dass niemand so krank sein muss“, antwortet er, um zu verdeutlichen, dass Jennesme sicherlich ihr ganzes Leben unter ihrer Behinderung ein stückweit leiden werde.

Meine Klassenkameraden wissen, dass mein Bruder behindert ist und finden es nicht schlimm
Die etwas älteren Kinder und Jugendlichen wurden von uns auch darüber befragt, ob das Thema „Menschen mit Behinderung“ in der Schule thematisiert werde. Außerdem haben sie uns darüber berichtet, inwiefern die Klassenkameraden über die Behinderung des Geschwisterkindes Bescheid wissen und wie sie darauf reagieren. Marleen sagt, dass in ihrer Schulklasse manchen Personen Neos Behinderung bekannt sei. Da es von Neo auch immer vieles – und vor allem amüsantes – zu berichten gebe, erzählt sie ihren Freundinnen gerne und oft lustige Geschichten von Neo. „Dann lachen die Klassenkameraden“, sagt sie. Aber sie habe es auch erlebt, dass sich einige aus der Klasse über einen Menschen mit Behinderung lustig gemacht haben. Ihre Lehrerin habe sofort eingegriffen und anschließend sei darüber gesprochen worden. Nils Klassenkameraden wissen, dass er einen autistischen Bruder hat. „Meine Klassenkameraden wissen, dass mein Bruder behindert ist und finden es nicht schlimm“, sagt er ganz selbstverständlich. Als das Thema in Biologie aufgekommen sei, habe er ausführlich darüber berichtet. Ähnliches hat auch Max erfahren: „Ein paar wissen das, die machen sich darüber keine Gedanken. Sie finden das nicht schlimm“. Auch David gibt an, dass in der Schule darüber gesprochen wurde – zum Beispiel als im Unterricht das Thema „besondere Menschen respektieren“ besprochen wurde. Julien hingegen erlebt leider auch häufiger gegenteiliges. „Die Freunde wissen von der Behinderung, können bzw. möchten aber nicht darüber reden und reagieren eher komisch, zeigen sich geschockt und mitleidvoll“. Dennoch ist es ihm wichtig, weiterhin offen mit der Behinderung seiner Schwester umzugehen.

Geschwister beeinflussen und prägen einander unweigerlich – oft ohne es selbst zu wissen. In unseren Gesprächen konnten wir feststellen, dass dies bei allen Interviewteilnehmern auch so ist. Es ist unglaublich, wie viel die Kinder über die Behinderung ihrer jeweiligen Geschwister wissen. Auch der Umgang untereinander ist sehr wertschätzend und keinesfalls nachtragend. Natürlich gibt es auch einige problematische Aspekte, wobei aber die Liebe zueinander deutlich wurde. Beeindruckend erscheint uns, wie reflektiert und offen die Kinder und Jugendlichen mit den Behinderungen umgehen. Gerade für die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderung können Geschwister einen wesentlichen Teil dazu beitragen, den inklusiven Gedanken weiterhin zu verbreiten. In den Gesprächen war zu vernehmen, dass es hieran teilweise noch mangelt – obgleich viele Freunde und Schulkameraden dem Thema sehr offen gegenüberstehen.